22 Jahre alt und der junge Star der amerikanischen Comicszene, das ist Tillie Walden. „Pirouetten“ (im Original „Spinning“) ist die erste Graphic Novel der Texanerin, die auf Deutsch erscheint.
Es ist die autobiografische Geschichte ihres Coming outs. Besonders an Waldens Geschichte ist die Szene und damit auch die Szenerie in der sie spielt: die Welt des Eiskunstlaufs. Schon als Kind beginnt Tillie diesen Sport. Das bedeutet: jeden Morgen vor der Schule Einzeltraining, nach der Schule Formationslaufen in der Gruppe. Am Wochenende Wettkämpfe.
Die Kunst an Pirouetten ist, wie es der Künstlerin aus der sehr speziellen Situation (Coming out einer lesbischen Leistungssportlerin) eine allgemeingültige Erzählung zu entwickeln. Das geschieht zum einen, indem sie an Erfahrungen anknüpft, an die man sich als Leser*in gut erinnern kann und die keineswegs allein für diese sehr spezielle Gruppe an Athletinnen. Waldens Schilderungen ihres grundlegenden Gefühls der Einsamkeit sind berührend. Man spürt wie existentiell die Suche und das Finden von Verbündeten ist und man ist erstaunt, wo sie zu finden sind. So findet die junge Tillie beispielsweise in ihrer Cellolehrerin ganz unverhofft und mit umso stärkerer Wucht eine Vertraute. Die auffällig unterkühlt beschriebenen und charakterisierten Eltern – vor allem die Mutter – spielen nicht die Rolle in ihrem Leben, die sie sich vielleicht wünscht. Andere Bezugspersonen kompensieren das mit sehr unterschiedlichen Ergebnissen.
Das Autobiografische entpuppt sich in „Pirouetten“ als eine Stärke. Man hat nie das Gefühl, dass die Geschichte automatisch auf eine Zuspitzung hinauslaufen muss, einen dramatischen Sturz, rasende Eifersuchtsszenen oder eine Trainerin, deren skrupelloser Ehrgeiz das Leben des Mädchens zerstört. Eiskunstlauf ist für das Mädchen Tillie etwas, für das sie sich einmal mehr oder weniger bewusst entschieden hat, manche Figuren machen ihr Spaß, manche hasst sie. Sie findet und verliert ihre erste große Liebe. Manchmal gewinnt sie Wettkämpfe, meistens ist sie nicht die Siegerin.
Besonders bemerkenswert ist es, wie Walden das Ende ihrer Laufbahn als Eisläuferin erzählt. Die Reaktionen auf ihren mit Anstrengung gefassten Entschluss sind viel nüchterner, als sie selbst gedacht hat. Der Abschnitt ihres Lebens ist vorbei. Jetzt ist sie Zeichnerin, Comiczeichnerin.
Und sie ist eine famose Künstlerin. Sie findet den Raum, den ihre Geschichte braucht, vor allem wenn es darum geht, die Atmosphäre von Eishallen und Umkleidekabinen zu evozieren. Auffällig und verblüffend stimmig ist die Wahl der Farben – violett, schwarz und in ganz bestimmten Momenten gelb.
Sieht man sich die weitere Biografie von Tillie Walden an, ist man geneigt zu mutmaßen, dass sie vom Sport zumindest eine eiserne Disziplin mitgenommen hat. Vier Comics hat sie seit 2015 veröffentlicht, zwei davon mehr als 300 Seiten stark. Und sie hat neben glänzenden Kritiken dafür auch die renommierten Medaillen der Comicszene zugesprochen bekommen. Für „Pirouetten“ bekam sie dieses Jahr den Eisner Award.
Erschienen im Reprodukt Verlag
Geschrieben 2018