Weites Land
Von Catherine Meurisse
Die Wand ist glatt und blau. Catherine nimmt einen Stift und zeichnet damit ein Rechteck auf die Wand, einen Rahmen – eine Tür. Durch die hindurch tritt sie auf ein Feld voller Sonnenblumen und zurück in ihre Kindheit.
Claudia Jersualem Groenewald und Catherine Meurisse, Hamburg 2022
Direkter kann man die Magie des Comics nicht beschreiben. Er öffnet der Zeichnerin und damit auch uns Leser*innen Türen und einen Zugang zu Welten, die im Alltag nicht ohne weiteres zu betreten sind. Die Welt in „Weites Land“, der neuen Graphic Novel von Catherin Meurisse, ist zunächst eine sehr konkrete Welt. Catherines Eltern kaufen einen verlassener Bauernhof Ende der 80er Jahre,auf dem platten Land, eine Stunde südlich von Paris. Sie kultivieren das Land nach ökologischen und literarischen Gesichtspunkten, Catherine und ihre Schwester wachsen zwischen Ablegern und Ziegen mit Pierre Loti und Marcel Proust auf. Solche prosaischen Dinge wie die Pubertät oder ein dort geplanter Freizeitpark stören in dieser Kindheit, die wie ein großes Spiel anmutet, nur am Rande. Der Besuch des Louvre und die Entdeckung der Malerei von Corot, Caravaggios und Friedrichs bringt die kleine Catherine zum Malen. Sie entdeckt die Karikatur, die ersten Schritte ihrer in Frankreich so erfolgreichen Karriere sind gemacht.
Für Meurisse ist „Weites Land“ eine Recherche nicht nur nach der verlorenen Zeit sondern auch nach den Quellen, die sie zu dem gemacht haben, was sie ist. Stärker noch, nach Quellen der Kraft, derer sie sich versichern muss. Catherine Meurisse arbeitet für die französische Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“. Durch einen Zufall war sie nicht in der Redaktionssitzung, bei der am 07. Januar 2015 zwölf Menschen von zwei islamistischen Terroristen ermordet wurden. Sie hatte verschlafen, verspätete sich und überlebte. Schon in ihrem letzten Comic „Die Leichtigkeit“ beschreibt sie den Prozess der Verarbeitung des Traumas. In der aktuellen Graphic Novel geht es nicht mehr explizit um den Anschlag, die gewalttätige Gegenwart ist aber ein Resonanzboden der Suche nach Catherines Wurzeln auf dem Land und in der Natur.
„Weites Land“ ist der Traum einer glücklichen Kindheit. Immer dann, wenn die Erzählung in eine belehrende oder idealisierende Richtung abzugleiten droht, wird das von Meurisses sehr direktem Humor gebremst. „Und wenn ein wenig Träumen seine Gefahr hat, so ist es nicht weniger Traum, was dagegen hilft, sondern mehr Traum, der ganze ungebrochene Traum.“ Das schreibt Marcel Proust, „der Freund der Familie“ (Meurisse) . Ihr wunderbarer Comicband ist der Versuch, den Traum einer inspirierenden, stärkenden Kindheit noch einmal zu träumen.
Erschienen im Carlsen Verlag
Besprechung ca. 2020