Besprechung 2020
„Niemand hatte gewollt, dass es so weit kommt. Ackerbau, Städte, Geld, freie Marktwirtschaft: der Mensch hatte alle seine Systeme gebaut, um zu überleben, und steckte jetzt darin fest. Es war einfach alles zu viel geworden. Diese nie endende Wachstumsbesessenheit. Der Mensch hatte eine Pause verdient.“
Earthboi scheint perfekt dafür, diese Pause zu ermöglichen. Schwierige Situation, einfache Lösung. Earthboi ist der Kunstname für einen zerbrechlich, fast außerirdisch wirkenden jungen Mann. Eigentlich ist er weder jung noch wirklich menschlich, viel eher ein Wesen, das entstanden ist aus der Entfremdung zwischen Mensch und Erde. Diesem Heilsbringer lohnt es sich zu folgen, zumal wenn er sich so effektiv mit sozialen Medien in Szene setzt. Er zieht sich in einen verlassenen Freizeitpark zurück, den die Natur sich zurückerobert hat. Er pflegt ein einfaches Leben und ist zugleich ein hypermoderner Influencer, der digitale Mittel perfekt zu nutzen versteht.
Mit einem einfachen, aber raffinierten erzählerischen Trick macht uns Lukas Jüliger zum Follower. Man ahnt zwar bald, dass da etwas nicht stimmen kann. Man spürt, dass die Legende um den geheimnisvollen Jungen ein wenig zu verschwurbelt ist, dass sein Aufstieg zu glatt verläuft. Aber das Versprechen, das er verkörpert, ist zu verlockend. Die Versöhnung von Mensch und Natur, wer will das heute nicht mehr? Eine Umkehr ohne viel Anstrengung, einfach durch eine App. Das klingt fantastisch. So gern man dieser Erfolgsstory folgt, man merkt, dass es nicht gut gehen kann. Dazu haben wir zu viele Biopics von Rockstars gesehen, auf den Aufstieg folgt der Fall.
„Unfollow“ ist ein Comic ohne Sprechblasen. Zwischen den Bildern steht der Text, in gestimmtem Ton, kurze Sätze. Blau und Rosa sind die Farben, sie markieren Differenzen. Text und Bild, das ist vielleicht das entscheidende formale Mittel dieser Geschichte, sind in einem Spannungsverhältnis. Jüliger setzt Widerhaken, visuelle Störungen, die das Misstrauen und damit die Spannung aufrechterhalten. Gelacht wird gar nicht. Es ist kaum Bewegung in den kunstvollen Bildern. Eher ein Report, in den sich zunehmend der Ton der Rechtfertigung mischt. Dieses Verfahren nimmt uns Leser*innen mit, fordert aber auch Aufmerksamkeit, damit wir nicht zu blinden Followern werden, die sich kein eigenes Bild mehr zu machen bemühen.
In Deutschland etabliert sich ganz langsam eine neue Generation an Comickünstler*innen. Lukas Jüliger, Jahrgang 1988, legt mit „Unfollow“ bereits seine dritte Graphic Novel vor. Entscheidend dafür ist auch sein Stil. Merklich von Manga beeinflusst hat er rasch eine Eigenständigkeit entwickelt, die sowohl künstlerisch überzeugt als auch einen starken Wiedererkennungswert aufweist.
„Unfollow“ ist eine Science-Fiction-Geschichte, die ganz offensichtlich in der Gegenwart spielt, eine Spekulation, die auch deswegen so berührt, weil wir alle Elemente so genau kennen. Wie Jüliger diese Elemente anordnet und lebendig macht, darin besteht seine Kunst.
Erschienen im Reprodukt-Verlag